Mit Auszeichnung bestanden

Ich war 38 Jahre jung. Die letzten Berufsjahre waren geprägt von Zeitdruck und Hektik. Vielleicht war es auch hin und wieder eine Zigarette zu viel.
Im Brustbereich wurde von Tag zu Tag zunehmend ein Stechen und ein zeitweiliger Druck spürbar. Bei einer kardiologischen Untersuchung stellten die Ärzte fest, dass ein paar Herzkranzgefäße fast verschlossen waren. Um die Kraft des Herzens wieder zu steigern, war eine Bypass-Operation unumgänglich. Eine später erfolgte OP brachte nach und nach den gewünschten Erfolg. Ich konnte zwar nicht in meinen bisherigen Beruf zurück, aber man gab mir die Möglichkeit einer Umschulung.
Ich trug beim Amt für Arbeit den Wunsch vor, mein vor zwanzig Jahren aus familiären Gründen abgebrochenes Studium zum Bauingenieur wohl nicht wieder fortzusetzen, jedoch zumindest ein zweijähriges Studium zum Techniker in Leer aufzunehmen. Der Mitarbeiter im Arbeitsamtes winkte vehement ab. Für diese Aufgabe sei ich mit Sicherheit zu alt, war seine Begründung. Da ich mit seiner Art und Weise des Ablehnens, mich zu unterstützen, nicht einverstanden war, verließ ich kurzerhand das Amt.
Ein ehemaliger Kollege brachte mich auf die richtige Spur. Ich sollte mein Vorhaben, meine Zukunft betreffend, mit der Rentenversicherung besprechen. Aufgrund einer besonderen Klausel gab man mir dort das Okay. Mit dieser Zusage suchte ich am nächsten Tag die Berufsbildenden Schulen in Leer auf, um mich um einen Studienplatz zu bewerben. Obwohl ich nicht alle Vorgaben zur Aufnahme erfüllte, machte der Direktor eine Ausnahme. Dass ich meinen kürzlich errichteten Hausanbau vom Entwurf über Statik und Bauausführung vollständig in Eigenleistung erstellt hatte, floss diese Akte in meine Bewerbung ein. Ich war angenommen! Bedenken bestanden von seiner Seite trotzdem. Sollte ich mit den Mitschülern, die bis fünfundzwanzig Jahre jünger als ich waren, Schritt halten können? Wie würden die Lehrer, die mein Alter noch gar nicht erreicht hatten?
Diese Argumente wollte ich nicht gelten lassen und und ließen mir vom ersten „Schultag“ an keine Ruhe. Vier Semester kniete ich mich von der ersten Unterrichtsstunde an voll in den Unterrichtsstoff aller Fächer im Hoch- und Tiefbau. Mit der Zeit wich die Skepsis der Lehrer und der Mitschüler mir gegenüber als „grauhaariger Senior“ von Tag zu Tag mehr. Ich selbst war stolz auf meine Leistungen und vor allem auf meine Zensuren.
Nach zwei erfolgreichen Jahren gab es vom Rektor der Schule in einer Feierstunde die Zeugnisse. Für mich wurde es zu einer wahren Sternstunde, da mir aufgrund meiner guten Leistungen mit besonderem Lob unter Beifall der anwesender Lehrer und meiner Mitschüler die Urkunde mit den Noten überreicht wurde. Dieser Tag ist einer der bedeutendsten in meinem Leben geworden. Gott sei Dank!
Nicht unerwähnt soll bleiben, dass mir bereits eine Woche später eine Arbeitsstelle in einem Chemie-Labor angeboten wurde. Diese Tätigkeit habe ich bis zu meiner Rente mit Erfolg ausgeführt.