Sternstunden gab es sicher so einige in meinem Leben. Aber alle zu erzählen würde sicher den Rahmen sprengen. Darum habe ich mir eine Geschichte aus meiner Kindheit überlegt, die sich so zugetragen hat und bei der ich noch heute eine Gänsehaut habe, wenn ich näher darüber nachdenke.
Wir schreiben etwa das Jahr 1990. Ich war bei meinem Vater zu Besuch (meine Eltern trennten sich als ich 4, meine Schwester 3 Jahre waren). Da auch die Schwester und der Schwager meines Vaters zu Besuch waren, nehme ich an, dass es ein Wochenende war. Alle drei standen damals noch voll im Berufsleben. Wir verbrachten einen schönen Tag zusammen und warteten auf die Ankunft meiner Schwester. Diese war zu einem Geburtstag eingeladen, sollte aber bald zurückkommen. Wir warteten, warteten und warteten… wahrscheinlich hatten wir schon zu Abend gegessen. Wer nicht kam, war meine Schwester. Das war zunächst schon merkwürdig, aber kein Grund zur Sorge, denn die Eltern des Geburtstagskindes waren ja schließlich da und führten die Aufsicht.
Plötzlich klingelte das Telefon bei meinem Vater. Ich saß neben ihm. Er meldete sich mit Namen und hörte plötzlich eine Stimme, die sagte: „Ich bin entführt worden.“ „Was?“ Papa wurde sofort leichenblass und fragte: „Wo bist du?“ „Ich bin entführt worden.“ sagte die Stimme immer wieder. „Wo bist du?“ wollte mein Vater erneut wissen. „Im Ginsterweg.“ sagte die Stimme. Dann legte sie einfach auf. Papa sah zu seiner Schwester und seinem Schwager. „Da hat jemand angerufen, der klang wie meine Tochter und behauptet entführt worden zu sein.“ „Was?“ Seine Schwester und sein Schwager sahen ihn entsetzt an. Mein Vater erzählte alles. Dann fragte er mich: „Du hast doch auch die Stimme erkannt?“ Ich nickte. Die Stimme klang zu 100 Prozent wie die von meiner Schwester. Sie klang kindlich. Zunächst rief mein Vater bei der Familie an, bei deren Sohn meine Schwester eingeladen war. Doch er erreichte niemanden. Ein Handy hatte damals noch niemand. Dann rief mein Vater bei uns zuhause an und erkundigte sich, ob meine Schwester vielleicht dort ist. Er erzählte meiner Mutter was passiert war. Auch sie war entsetzt und fiel aus allen Wolken. Schließlich legte er auf, fackelte nicht lange, sondern entschied: „Wir hauen sie da raus.“ Dann wandte er sich an seinen Schwager und fragte ihn: „Bist du dabei?“ Sofort antwortete dieser ohne zu zögern: „Klar bin ich dabei.“ Ich muss dazu sagen, dass weder mein Vater noch sein Schwager Schlägertypen waren und sich trotzdem entschieden meine Schwester rauszuhauen – wo auch immer sie sein sollte. Sie hatten weder eine genaue Adresse noch einen Plan wie sie vorgehen wollten. Mein Vater – seinerzeit Richter am Amtsgericht Aurich für Straf- und Familiensachen – kam nicht auf die Idee die Polizei zu rufen. Das wäre die einfachste Lösung gewesen. Er saß quasi direkt an der Quelle. Mein Vater entschied, dass wir alle mitkommen: seine Schwester, sein Schwager und auch ich mit meinen damals 10 Jahren. Ich hatte wahnsinnige Angst und begann zu heulen – allerdings ohne Tränen. Wir hatten uns gerade alle angezogen als die Schwester meines Vaters die Treppe runter ging zur Haustür. Diese war aus Glas, sodass man sehen konnte, wenn jemand davor steht. „Da ist sie doch.“ sagte sie. Ich kam hinter ihr her. Wir öffneten die Haustür und fielen meiner Schwester um den Hals. Diese war total verwirrt, wusste nicht, was los ist. Sie hatte Geburtstag gefeiert und war nur länger geblieben um beim Aufräumen zu helfen. Dafür hatte sie 1 Mark bekommen wie sie stolz erzählte. „Ich habe 1 Mark bekommen.“ sagte sie immer wieder. Was inzwischen bei uns los war, konnte sie nicht ahnen. Wir schlossen sie alle in die Arme und erzählten was wir für bange Minuten durchgemacht haben.
Diese Entführung hat es nie gegeben. Jemand wollte sich einen sehr schlimmen Scherz mit meinem Papa erlauben. Leider sind wir nie dahinter gekommen wer die tatsächliche Anruferin war. Wir gehen von einer Frau aus, die ihre Stimme verstellt hat. Papa hat immer wieder gesagt, dass die Person so klang wie meine Schwester als hätte sie was genommen. Vielleicht hatte die Person etwas genommen. Man weiß es nicht. Mein Vater hat meine Schwester immer wieder gefragt, ob sie das vielleicht selber war. Früher haben Kinder immer gerne an Geburtstagen Telefonstreich gespielt, bei Leuten angerufen und irgendetwas erzählt. Aber meine Schwester beteuerte, dass sie das nicht war. Dafür war sie auch viel zu überrascht als wir sie gesehen haben und ihr um den Hals fielen. Auch eine Mitschülerin von ihr hatten wir kurz in Verdacht. Doch auch das zerschlug sich wieder. Wir haben nie erfahren, wer dahinter steckte und aus welchem Grund die Person das gemacht hat. Danach gab es nie wieder einen Anruf in dieser Art.
Wir waren sehr froh und dankbar, dass sich diese Entführung als sehr großer Irrtum herausstellte – und ich besonders, dass ich weiterhin meine Kindheit, aber auch Jugend und das Erwachsen sein mit meiner Schwester verbringen und erleben durfte und noch immer darf.