Vergiss es nie

August 2022. Eine neue Liebe. Zwei Wochen Zeit zum Kennenlernen, Herantasten, Fühlen, Verstehen…bis ein Schwangerschaftstest diese unbeschwerte Zeit völlig aushebelte. Positiv. Und nach den anfänglichen Reaktionen wie “Das kann doch nicht sein..“..“Wie denn?…“ “Ich hab doch ….“….merkten wir, dass auf die nicht sonderlich zielführende Frage “Warum?“ ein “Wie?“ folgen sollte und musste. Also sollten wir nun in dieser jungen Phase des Kennenlernes mit einer Verantwortung konfrontiert sein, die bedeutsamer kaum sein konnte. Ein überwältigendes Gefühlspotpourri. Natürlich überkamen uns Zweifel, Ängste und Sorgen. Aber auch eine große Portion Zuversicht, Neugier und Freude. Ja, wir brauchten Zeit. Als klar war, dass wir uns mit vollem Herzen auf dieses neue Leben einlassen werden, packte uns die Vorfreude. Innerhalb weniger Tage stand der Name fest, ich packte viel zu früh meine Kliniktasche und schrieb Listen, damit wir auch ja nichts vergessen. Es gab wohl niemanden, der von unseren Babyvorbereitungen verschont blieb. Der anfänglichen Unsicherheit wich ein so großes Glücksgefühl. Reinhard Mey lieferte uns die passende Hintergrundmusik. Keine Sekunde dachten wir daran, dass noch irgendetwas passieren könnte.
Eines Morgens klingelte der Wecker. 6 Uhr, wie immer. Gedanklich schon in der Morgenroutine: den Großen wecken, Frühstück machen, für die Schule vorbereiten….verlor ich auf einmal schwallartig Blut. So viel, dass ich von einer Sekunde auf die nächste die Hoffnung verlor. Ich erinnerte mich an Filmszenen, an verzweifelt schreiende Frauen, die genau wussten, was ihnen gerade passiert ist. Ich hingegen fühlte nichts. In mir war eine Leere und ich funktionierte. Ich weckte also meinen Partner und meinen Sohn. Versuchte vergeblich beide zu beruhigen und vermittelte kurz und bündig, dass wir nun wohl ins Krankenhaus fahren sollten. Ich rief kurz noch meinen Bruder an, um ihn mit der Betreuung meines Sohnes zu beauftragen. Wir fuhren los. Es war dunkel, keiner sagte ein Wort. Ich hatte wehenartige Schmerzen, versuchte meine Tränen zu unterdrücken und flüsterte dann kurz vorm Eintreffen im Krankenhaus meinem Partner zu: ,,Es ist vorbei!“. Die Gedanken überrollten mich. Immer schon ging ich mit der Überzeugung durchs Leben, dass alles einen bestimmten Grund hat. So stellte ich mir zwangsläufig die Fragen: ,,Warum jetzt?“ Sollte das die “Strafe“ für unsere anfängliche Unsicherheit sein? Dafür,dass wir unsere Gedanken und Gefühle zunächst sortieren mussten, bevor wir unser Glück mit vollem Herzen annehmen konnten?“ ,,Warum wir?“ Wir warteten eine gefühlte Ewigkeit im Wartezimmer der gynäkologischen Ambulanz, bevor ich untersucht wurde. Die Untersuchung verlief nahezu wortlos. Die wichtigste Frage also musste ich dem Gynäkologen selber stellen: ,,Lebt mein Kind?“ Er antwortete recht kühl: ,,Ja, es lebt noch.“…. Noch? Wie sollte ich mit der Information umgehen. Im anschließenden Gespräch, sagte er mir, dass er mich gerne stationär aufnehmen würde, man allerdings nichts tun kann. Man müsse abwarten. Ich sollte mich aber auf das Schlimmste vorbereiten. Ich wollte nach Hause und konnte nicht glauben, dass man dem Ganzen so machtlos gegenübersteht. Um Punkt 8 stand ich also bei meiner Gynäkologin in der Praxis, die uns deutlich empathischer begegnete, allerdings nach einer weiteren Untersuchung keine besseren Nachrichten für uns hatte. Abwarten. Bitte auf “das Schlimmste“ vorbereitet sein. Wie kann man sich denn darauf vorbereiten?, fragte ich mich innerlich. Eine Woche bis zum nächsten Termin. Auf dem Nachhauseweg las ich im Mutterpass die Worte “Abortus imminens“. Ich verlor die Hoffnung, versuchte nichts zu fühlen. Mein Partner hoffte weiter, hoffte für mich mit. Eine Woche später. Der lang ersehnte Termin. Eine Vertretungsärztin. Nach einer langen Zeit im Wartezimmer, empfing sie uns und erkannte, dass wir direkt zur Untersuchung übergehen sollten. Wir standen völlig neben uns. Die Woche hatte ihre Spuren hinterlassen. Ich war hoffnungslos und hatte Angst vor der Gewissheit. Alles war still, sie sagte nichts, was uns völlig verunsicherte. Ich musterte ihr Gesicht, konnte die Bilder auf dem Monitor nicht ertragen. Auf einmal lächelte sie mich an und sagte ,, Das kleine Herz schlägt….schauen Sie!“ Sie drehte den Monitor zu mir und ich traute mich einen Blick zu riskieren. Und da war sie. Meine Sternstunde! Unsere Sternstunde. Was für ein Gefühl, endlich wieder wach und am Leben zu sein.
Die Geburt unseres Sohnes und sein Start ins Leben waren noch einmal eine große Herausforderung. Beinahe hätte er den Sprung ins Leben nicht geschafft. Wir mussten also lange überlegen, was in all der Zeit “Die Sternstunde“ war. Vielleicht ist es aber auch gar nicht so wichtig. Vielleicht ist es viel wichtiger, die vielen Sternstunden zu erkennen, sie anzunehmen und aus ihnen Hoffnung zu schöpfen. Hoffnung für die Zeiten, in denen das Leben nicht so viele Sternstunden bereit hält.
Der kleine Kämpfer hat unsere Familie unendlich bereichert, hat uns vielleicht erst zu einer gemacht. Jetzt dürfen wir diesen kleinen Menschen anschauen, ihn wachsen sehen, für ihn da sein. Ich durfte erfahren, wie ein Mensch, den ich kaum kannte, zu einem wundervollen Papa und Partner wird. Wir dürfen sehen, was für einen tollen großen Bruder er hat, wie er in seiner Rolle aufblüht, ihn liebt und wie sich einfach alles fügt. Dieses Jahr an Weihnachten, als es still wurde und wir endlich alle zur Ruhe kommen durften, überkam mich diese unendliche Dankbarkeit und das Gefühl, dass ich in diesem Moment alles habe, was ich mir wünsche und nirgendwo anders auf der Welt sein möchte.
Und ich bleibe dabei, alles passiert aus einem bestimmten Grund.
Also kleiner Lio, vergiss es nie:
Vergiss es nie, dass du lebst, war keine eigene Idee
Und dass du atmest, kein Entschluss von dir
Vergiss es nie, dass du lebst, war eines anderen Idee
Und dass du atmest, sein Geschenk an dich
Du bist gewollt, kein Kind des Zufalls, keine Laune der Natur
Ganz egal, ob du dein Lebenslied in Moll singst oder Dur
Du bist ein Gedanke Gottes, ein genialer noch dazu,
Du bist du, das ist der Clou, ja der Clou. Ja, du bist du