Vor ein paar Jahren fragte mich unsere Enkelin bei einem ihrer Besuche: „Opa, betest du abends?“ Ich überlegte kurz und überraschte sie mit der Antwort: „Ja, mein Kind, aber auch morgens!“ Nach einem kurzen Erstaunen ihrerseits kam ein leises „Wieso?“. Sie setze sich zu mir, um hinsichtlich dieser Antwort ihre Neugier zu stillen. Ich spürte, dass sie es genauer erfahren wollte. Ich verriet es ihr:
„Vor etwa zwanzig Jahren wurde ich das erste Mal am Herzen operiert. In einer mehrstündigen Operation wurden mir vier koronare Bypässe als Umleitung von fast verschlossenen Herzkranzgefäßen eingesetzt. Dadurch sollte meinen Herzen wieder mehr Kraft bekommen. Alles verlief nach Wunsch. Nach der Genesung im Hospital mit anschließender Erholung im Reha-Zentrum und daheim erfolgte die Einführung in den Alltag Schritt für Schritt, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Bis vor gut drei Jahren.
Die gleichen Schmerzsymptome wie vor zwei Jahrzehnten waren wieder spürbar. Bei der Untersuchung in der kardiologischen Abteilung stellte man fest, dass die damals eingesetzten überbrückenden Koronararterien marode geworden waren. Sollte ich das zweite Mal das Prozedere einer Operation über mich ergehen lassen?
Es folgte ein Gespräch beim Chefarzt. Klar, dass Oma mit dabei sein musste Mit ruhiger, einfühlsamer Stimmer machte er mir klar, dass eine erneute Operation, also eine Re-OP mit Risiko bei mir verbunden wäre. Seinen zögernden Worten entnahm ich, dass meine Herzkranzgefäße sich im allgemeinen in keinem guten Zustand befänden und für ihn lediglich eine medikamentöse Behandlung in Frage käme, um die Herzfunktion so lange wie möglich zu stabilisieren. Auf meine Frage „Wie lange?“ kam nur ein Achselzucken zurück.
Wortlos, Tränen unterdrückend fuhren Oma und Opa na Hause. Die nächsten Tage drehte es sich alles wie ein Brummkreisel im Kopf. Plötzlich der unerwartete – vielleicht erlösende – Anruf. Der Chefarzt der klinischen Kardiologie meldete sich. Er habe mit einem Kollegen in Göttingen meinen „Fall“ besprochen. Mit dessen Unterstützung wolle er eine erneute Herz-OP bei mir noch einmal wagen. Eines ließ er jedoch nicht unerwähnt: „Die Erfolgschancen stehen bei Ihnen aber fifty-fifty!“ Zumindest war es ein Lichtblick am Horizont, denn eine erfolgreiche Operation würde meine derzeitige Lebensqualität erheblich verbessern. Selbstverständlich gab ich meine Zusage.
Zwei Wochen später lag ich auf dem OP-Tisch und war von nun den Herzspezialisten ausgeliefert. Kurz vor der Vollnarkose schickte ich noch ein Stoßgebet gen Himmel, mit der flehenden Bitte, der liebe Gott möge die Arbeit der Chirurgen überwachen.
Etwa vier Stunden später ließ mich ein sonderbares Gefühl wach werden. Ich spürte eine Hand, die sich in meine legte. Eine Stimme nannte leise meinen Namen. Benommen erkannte ich die undeutlichen Umrisse einer hell gekleideten Frau. Unruhe machte sich in mir breit. War die mir Trost zusprechende Frau eine Assistentin oder vielleicht gar ein Engel? Zaghaft versuchte ich den Händedruck zu erwidern. „Ich bin Schwester Anna. Herr Gerdes, sie haben alles gut überstanden!“ Diese liebevollen Worte ließen meine müden Augen vor Glück und Erleichterung feucht werden. Bis gegen Abend blieb ich auf der Wachstation. In einem Zweibettzimmer schlief ich danach bis zum nächsten Morgen.
Vor lauter Freude dankte ich zuerst dem lieben Gott, dass er seine Hände während der Operation schützend über mich gehalten hatte und ich durch ihn eine wahre Sternstunde erleben durfte. Von diesem Tag an spreche ich jeden Morgen ein Dank- und Fürbittengebet. Ich danke jeweils für die ruhig verlaufende Nacht und bitte Gott gleichzeitig um einen friedvollen, gesunden Tag für alle, die mir am Herzen liegen. Dazu gehörst auch du.
„So, mein Kind, jetzt weißt du, warum ich nicht nur abends bete sondern auch morgens!“