Ich erinnere mich an den alten Mann in Wilhelmsburg (jetzt bin ich selbst bald so alt wie er damals). Er war ein komischer Kauz. An jedem sonnigen Tag ging er mit einem Gewehr über der Schulter im Schlafanzug in seinem Garten umher. Ich habe ihn einige Male in seinem Haus auf dem Deich an der Doven Elbe besucht. Die Erinnerung an sein frühes Leben war vollkommen klar und vernünftig. Er erzählte mir von seiner Zeit an der Westfront im Krieg 1914/18: Heiligabend hörten wir in den Gräben der vordersten Linie Gesang. Es waren Engländer, die da sangen. Die Melodie kannten wir. Es war das Lied STILLE NACHT HEILIGE NACHT, auf Englisch SILENT NIGHT, HOLY NIGHT, ALL IS CALM… Wir waren erschüttert, dass sie das Lied kannten und sangen, das wir in unserem Herzen mit uns trugen. Wir stimmten auf Deutsch ein und liefen unbewaffnet in ihre Richtung. Als wir sie erreichten, sangen wir noch einmal das Lied, sie in ihrer Sprache, wir in unserer. Dann schenkten sie uns Zigaretten und Schokolade. Wir zeigten uns Fotos von unseren Familien. Nachdem wir noch einige Zeit zusammen verharrt hatten, umarmten wir uns und gingen zurück. Wir konnten nicht mehr aufeinander schießen. Wir konnten es nicht. Und wir wollten es nicht.
Unsere Einheit war in den Augen unserer Vorgesetzten kampfuntauglich geworden. Die Einheit wurde aufgelöst und wir kamen anderswohin an entfernte Frontabschnitte. // Ich konnte die Geschichte des alten Mannes nicht glauben. Bis später ein Film über diese Ereignisse gedreht wurde, fußend auf der wahren Begebenheit. Da glaubte ich, was ich gehört hatte. Und ich begriff etwas von der Heiligen Nacht und der Botschaft des Friedens und des Fürchtet Euch nicht: MEINEN FRIEDEN GEBE ICH EUCH. Nicht gebe ich, wie die Welt gibt. Meinen Frieden gebe ich Euch. Euer Herz sei unerschrocken und furchtlos!