Wer kümmert sich um Papa

Ein langer schleichender und schlimmer werdender Krankheitsweg begleitete meine Mutter, fast möchte ich meinen, er begann mit Geburt meines jüngsten Kindes. Wenn er anfangs fast unmerklich schlimmer werden sollte wurde es über die Jahre, nun schlimmer und schlimmer. Die Medikamente sollten immer zur selben Zeit eingenommen werden, doch was macht man mit jemanden der die Medikamente schlicht nicht nehmen möchte, sie als „Gift“ bezeichnet? Mein Vater verzweifelt, wie soll er meiner Mutter helfen? Oft klingelte dann bei uns das Telefon: „Kannst du kommen, Mama nimmt ihre Medikamente nicht“ und klar kam ich, reichte meiner Mutter am Frühstückstisch ihre Medikamente. Das dazu gereichte Glas Wasser, kippte fast provozierend um, denn es schmeckt ja nach nichts. Okay, ein Glas Saft meistens klappte damit. Doch an diesem Tag nicht, sie knallte das Glas derart hart ablehnend auf den Tisch, ich war damit komplett übergossen und die Medikamente waren immer noch nicht eingenommen, nur meine Mutter, die lachte, lachte über mein aussehen als nasser Pudel und diesen Moment nutzte mein Vater, lachte mit ihr über mein Aussehen obwohl ihm die Wut im Gesicht geschrieben stand. Doch er versuchte ihr nebenbei nun mit einem neuen Glas Wasser, die einzunehmenden Tabletten zu geben und mir fiel die Porzellan Keksdose in den Blick, legte ihr schnell einen Keks dazu auf ihr Frühstücksbrett. Die Tabletteneinnahme an diesem Morgen gelungen. Doch an meinem Vater gingen diese Momente nicht spurlos vorbei, denn nachts stand sie fast jede Nacht auf, statt zu schlafen wusch sie alles mögliche im Waschbecken, setzte es dabei auch schon mal unter Wasser. Und so kam es eines Tages, mein Vater kam von einem Arztbesuch. Auf dem Heimweg verpasste er jedoch die Straße an die er abdrehen musste, fuhr weiter und weiter fand es irgendwann selbst merkwürdig drehte an der nächsten Gelegenheit um und fand auf diesem Weg die Straße in die er hätte abbiegen müssen.
Als er mir am Telefon davon berichtete, es irgendwie lustig fand, war ich hingegen alarmiert meinte er möge sofort seine Ärztin anrufen. Doch stattdessen wollte er direkt zu ihr fahren, meine Argumente haben ihn wohl zu denken gegeben, klar kam ich meine Mutter abholen. Geschockt nahm ich den Anruf seiner Ärztin entgegen, mein Vater war direkt aus der Praxis auf die „Stroke unit“ nach Emden, eingeliefert worden. Sein Autoschlüssel war in Praxis geblieben. Das Auto holte ich abends zusammen mit meinem Mann, ab. Das erste Mal, fuhr ich Papas Auto mit viel Angst im Nacken, seine Drohung ,als wir Töchter gerade den Führerschein hatten: „Fährt mir auch nur eine von euch auch nur eine Beule ins Auto, ich ziehe euch einzeln durch jede Öffnung in unserer Mauer an der Straße!“ , die er damals selbst hergestellt hat und so war ich entsprechend froh, das Auto heil bis in die Garage gefahren zu haben.
Nachts schlief meine Mutter in den ersten Tagen zu Hause und am Morgen holte ich sie zu uns. Ein Dauerzustand konnte dies nicht sein, es war viel zu gefährlich, nicht zu verantworten. Ließ es sich anders regeln?! Von uns Töchtern, nicht zu stemmen. Meine jüngste Schwester lag gerade im Krankenhaus hatte ihre zweite Tochter, entbunden, meine Mutter voller Stolz, als wir sie zusammen besuchten. Die behandelnde Ärztin meiner Eltern sah in die Ferne, so kann es nicht weitergehen und veranlasste eine Heimaufnahme für meine Mutter, doch dieses Haus gefiel meine Mutter so gar nicht, und benahm sich nicht gerade freundlich dort. Meine ältere Schwester telefonierte schließlich mit dem Heim, dass mein Vater mit gebaut hatte, dies gefiel ihr, hier war sie auch schon einmal zur Kurzzeitpflege gewesen. Im Rollstuhl fixiert mit Kabelbindern an Händen und Füßen, traf der Taxifahrer schließlich mit ihr bei diesem Pflegeheim ein. Ich war sichtlich entsetzt, der Taxifahrer konnte nichts dafür, ihm tat meine Mutter auch leid jedoch wusste sich das andere Heim wohl nicht anders zu helfen, damit die Fahrt nicht dramatisch enden würde.
Hier in diesem Heim ging es ihr gut mein Vater fuhr täglich zu ihr, sie aßen gemeinsam, tranken ihren Tee zusammen machten Spaziergänge. Jedoch Körperlich baute meine Mutter Zusehens ab. Liefen wir anfangs draußen noch mit ihrem Rollator spazieren, sollte es bald darauf im Rollstuhl bis zum Pflegerollstuhl übergehen.
Eines Abends im Mai, ich war gerade in Westerstede operiert worden kam der Anruf, meine Mutter war ins Krankenhaus eingeliefert worden. Es stand nicht gut um sie und diese Schreckensnachricht sollte nicht die einzige bleiben, zwei weitere Familienmitglieder teilten ihre unterschiedlichen Krebserkrankungen mit, darunter mein ältester Sohn. Wie halte ich das bloß aus, woher nehme ich die Kraft, habe ich mich oft gefragt.

Doch nun stand meine Mutter an 1. Stelle. Nach diversen Untersuchungen wurde meine Mutter von der Intensivstation auf Normalstation in ein Einzelzimmer, verlegt, Hoffnung auf Besserung, bekamen wir nicht. Im Koma liegend, wurde uns eine Magensonde für sie vorgeschlagen. Geschlossen lehnten wir ab, durch unsere Unterschriften unterstützten wir dazu unseren Vater. Der behandelnde Arzt sprach uns sein Lob aus er hätte genauso gehandelt.
Ich begann CD´s für sie mit ihren Lieblingsliedern zu brennen, von einem Kursteilnehmer meines Hospizkurses bekam ich dazu ein paar CD´s mit Kirchenliedern. So saß ich mit einem Recorder an ihrem Bett und beobachtete sie genau, wie sie auf jedes einzelne Lied reagierte, schrieb für die Schwestern auf welches Lied sie hören mochte welches nicht. Doch erwachen wollte sie trotzdem nicht bis mir eine Zeitschrift in die Hände fiel, ich ihr daraus vorlas es von Kräutern handelte und irgendwann zu ihr meinte, das Maria sicherlich für sie schon barfuß durch den Garten gelaufen wäre um Kräuter für sie zu sammeln um ihr dann einen leckeren Tee zu servieren. Ich hatte den Absatz noch nicht zu Ende gelesen, da schlug sie die Augen auf war wieder da. Ich freute mich so sehr und im nächsten Augenblick kam mein Vater zur Tür herein wollte den Moment mit ihr allein genießen. Still und leise verließ ich das Zimmer, sagte im Vorbeigehen im Schwesternzimmer Bescheid. Im Treppenhaus dachte ich über die Geschichte nach, sah wie wichtig ihr die Vermieterin ihrer Ferienwohnung aus dem Bayrischen Wald doch ist. Wie viele Jahre fuhren sie dort eigentlich schon hin?
Jetzt war sie zwar wach nur besser gehen sollte es ihr nicht mehr. An einem Abend, ging es ihr besonders schlecht, ich wollte schon bei ihr über Nacht im Krankenhaus bleiben, ich saß an ihrem Bett und sprach mit meiner Mutter über alles mögliche auch über uns Kinder, zählte uns alle mit Namen auf, was aus uns geworden ist, mir vielen sogar ein paar Geschichten aus unserer Kindheit ein. „Mama weißt du noch?“ Dabei konnten wir ein bisschen miteinander lachen, oder eher gesagt lächeln. Eigentlich wollte ich nun zu ihren Enkelkindern übergehen, doch meine Mutter fiel auf, ich hatte meinen Bruder nicht erwähnt und dies holte sie nun direkt nach. Ich konnte ihren Satz nur bestätigen, denn sie hatte ja Recht, er war gestorben, gestorben als Baby hatte nur wenige Minuten gelebt.
Ihre nun wie aus einer Pistole geschossene Frage: „Und wer kümmert sich um Papa?“ konnte ich nur verdattert beantworten, das sich dies zum richtigen Zeitpunkt finden wird. Wie auf Knopfdruck kam mein Vater herein, warum habe ich nicht hinterfragt, ob er von der Nachtschwester angerufen worden ist? Egal, ich ließ beide Taktvoll allein. Gab er ihr die Kraft, die sie nun benötigte? Denn wenige Tage danach wurde sie ins Heim zurückverlegt.

Die Monate zogen dahin, sie blieb Bettlägerig ist nach dem Krankhausaufenthalt nicht wieder aufgestanden. An einem Sonntagsvormittag, hatte ich ihr Radio so eingestellt, das sie den Gottesdienst hören konnte, ich saß neben ihr, sprechen wollte sie nicht mehr. Ein Lächeln huschte ihr während des Gottesdienstes durchs Gesicht. Beim Gebet faltete sie ihre Hände, bei den Liedern, bewegte sie ihre Lippen. Heute nun sang ein Chor, sie war unruhig, ihrer Hände schoben sich hin und her als würden sie nach etwas suchen. Lag es daran, sie war Jahrelang im Singkreis gewesen zuletzt sogar mit meiner jüngsten Schwester, die so eine wundervolle Stimme hat, der ich so gerne zuhöre? Meine Mutter bewegte ihre Lippen als würde sie mitsingen, ihre Hände blieben unruhig, es sah so aus als würde sie nach ihrem Liederbuch oder ihrer Liedermappe, suchen und so fragte ich sie, ob sie mitsingen würde, doch sie kam mit ihrem Oberkörper hoch saß fast Kerzengerade sagte klar und deutlich, damit hatte ich gar nicht gerechnet: „Nein, das können andere tun, das habe ich lange genug getan!“ nachdem das „Vater unser“ gebetet war sah sie sich genauer um schaute nach oben (über ihrem Bett war ein Fliegennetz befestigt) und so meinte sie weiter: „Eine schöne Kirche ist das hier, ja eine wirklich schöne, welche ist das?“ Dabei nickte sie wohlwollend mit dem Kopf. Da der Gottesdienst aus der Lambertikirche kam antwortete ich: „Mama der Gottesdienst kommt aus der Lambertikirche“ die Orgel spielte, und sie nochmals: „Eine schöne Kirche ist das“ und im nächsten Moment schlief sie mit dem Segen, der gerade gesprochen wurde, ein. Ihr Lächeln im Gesicht, nahm ich wie ein Bild mit nach Haus.
Die Monate vergingen es waren nur noch wenige Tage bis Weihnachten als Nachmittags der Anruf aus dem Pflegeheim kam, dass es meiner Mutter schlechter, sehr viel schlechter ging. Mein Vater saß dort an ihrem Bett bereits seit dem Mittag, war von den Mitarbeitern des Heims im Zimmer vergessen worden. Wir saßen alle um sie herum. Meine beiden jüngeren Schwestern hatten noch einige Weihnachtsvorbereitungen zu treffen. Ich bot an, zu bleiben meinen Vater über Nacht, zu unterstützen, sie anzurufen sollte sich etwas verändern. So blieb ich mit meinem Vater zurück. Es war mittlerweile Dunkel geworden. Da wir über Nacht bleiben wollten, wollte ich schnell nach Hause fahren, Decken für uns holen die wir uns ggf. nur umlegen um nicht kalt zu werden. Kaffee und ein paar Brote wollte ich auch mitbringen. Fragte meinen Vater was er auf seinem Brot haben wollte. Er wollte weder noch ich sollte einfach bleiben. Doch da er seit dem Mittag bereits an ihrem Bett saß wurde ich nun energisch, erklärte ihm, das eine Decke und eine Tasse Kaffee samt einem Brot ihm sicher gut tun würden und fügte ein :“Papa, keine Widerrede“ hinterher, zu meiner Mutter gewandt, ich streichelte ihr noch einmal kurz durchs Gesicht, meinte ich: „Mama ich bin in 5 – 10 Minuten wieder da, ich hole nur eine Decke, Kaffee und Brot für Papa und mich, bis gleich“ drehte mich um verließ den Raum. Kaum zu Hause angekommen, ich wohne nicht weit vom Heim entfernt, klingelte mein Handy, das Heim teilte mir mit, das meine Mutter soeben eingeschlafen ist. Ich dachte das stimmt nicht, konnte es nicht glauben, da komme ich doch gerade her, auch wenn meine Mutter nicht mehr spricht, es sind doch noch keine 5 Minuten her, das kann ich gar nicht glauben.
Statt nun Decken, Brot und Kaffee zu holen, fuhr ich direkt zurück. Mein Vater meinte zu mir: „Du hast gerade die Tür von draußen zugemacht, da hat Mama noch einen tiefen hörbaren Atemzug von sich gegeben und ist gestorben“.
Ohne in diesem Moment zu ahnen, dass ich den letzten Wunsch meiner Mutter erfüllt habe, „Wer kümmert sich um Papa“, habe ich nach Eintreffen meiner Schwestern mit ihren Partnern zum Abschied für meine Mutter, das Vater unser, gebetet.