Der Umweg

Ich hatte mich für die Mittagsfähre entschieden, als es galt Baltrum tschüss zu sagen, Aurich wartete.
Baltrum ist meine Heimatinsel, ich bin oft dort.
Zu meiner Freude erwischte ich auf dem vollbesetzten Dampfer noch ein sonniges Plätzchen und genoss die 30 Minuten Fahrzeit bis zum Hafen Neßmersiel. Es war einfach nur schön. Um mich herum ausgeruhte Feriengäste, Gespräche die sich in der Luft verloren, Kinder denen man vorlas oder auch nicht.
Zufriedenheit auf den Gesichtern.

Der Dampfer fuhr wie eh und je ruhig durch das Watt — Ferienstimmung.

Nach dem Anlegemanöver galt es das Schiff zügig zu verlassen, Koffer und Taschen aus den Gepäckcontainern holen, um alles im nahegeparkten Auto zu verstauen. Auch mein Auto, etwas sandverstaubt, wartete geduldig — ich konnte starten. Aber diesmal verlief alles anders als geplant.

Ich verspürte Hunger, was tun? Mir fiel ein, was mein Mann und ich in gleicher Situation schon des Öfteren unternommen hatten. Einfach die Richtung Aurich geändert, das nahegelegene Westeraccumersiel angefahren, um dort in einem Fischrestaurant unser Lieblingsgericht zu essen.
Ich wusste um mein Ziel. Wusste, in Westeraccumersiel auf ansteigender Straße – oben rechts – da musste es sein! Es war nicht mehr da! Eine italienische Eisdiele lockte mit köstlichen Spezialitäten. Zur Linken, etwas tiefer zwei weitere.
Es gab kein Fisch, es gab nur Eis und ich gab auf.
Meine ganze Vorfreude war dahin, nun wollte ich nur noch nach Hause. Beim vorsichtigen Wenden blieb mein Blick an einem Haus hängen,
das schräg vor mir auf angrenzender Wiese stand.
Und dieses Haus ließ mich auf die Bremse treten, ließ vor meinen Augen einen Film ablaufen.

Bild um Bild Erinnerungen

Das Haus — meine Gedanken versuchen zu ordnen, geben laufenden Bildern Raum, die fast übereinander stolpern.
Mein Auto muss warten, mein Hunger auch, bzw. verzieht sich lauernd.

Westeraccumersiel, 70er, Jahre

Vor meinen Augen verliert sich die Zeit, ich lasse es zu. Stehe vor dem Fischerhaus, das nicht nur meine Geschichte sich ausgesucht hat,
es ist lange vorher nach ihm gesucht worden.
Es kamen Menschen mit Träumen im Gepäck, Suchende, vor Augen ein Ziel – ihr Ziel.
Sie fanden es in Westeraccumersiel, sie kauften das “ Fischerhaus.“
Das CVJM Haus Accum war geboren, halleluja! ——————

Ich habe Hunger, wie schon erwähnt. Ihn zu besänftigen ist schiefgelaufen. Die vielen Autos vorne beim CVJM Haus zeigen mir, es hat auch heute noch nichts von seiner Anziehungskraft, von Leben und Wirken verloren. Wie oft durften unsere Söhne daran teilnehmen geht es mir durch den Sinn. Hoffnungsvoll steige ich aus, klopfe an die Haustür, sie ist verschlossen.
Ein auf Kippe stehendes Fenster hat vielleicht auf mich gewartet, lässt ein junges Mädchen auf mich aufmerksam werden, das es öffnet.
Ein freundliches Gesicht fragt nach meinen Wünschen. Meine Antwort ist ehrlich und bittend:
“ Ich habe Hunger, hätten sie wohl einen Teller Suppe für mich?“
Ihr Lächeln verliert sich nicht, jetzt steht die Tür offen.
Es ist Sonntag – das Mädchen erklärt, wir sind ein Team junger Leute aus NRW – katholisch sagt jemand – das nach einem Arbeits – und Freizeitwochenende am Packen ist, um sich nach dem “ Resteessen “ auf den Heimweg zu machen. Mein Dabeisein wurde für uns alle zu einem ganz besonderen Erlebnis.
Es wurde erzählt, gelacht, Adressen ausgetauscht – die Reste – reichten!
Mein Dankeschön lag nicht nur unterm Teller. Auf einer späteren Einladung stand: 2023, ostfriesische Teestunde bei Eva in Aurich.
– Ich wurde übrigens gebeten, vor dem Essen das Tischgebet zu sprechen.-

Mein Resümee
Ich bekam nicht nur „einen Teller Suppe. „
Zehn junge Menschen aus der St. Peter Gemeinde Duisburg schrieben später:
Danke, dass Du Dich getraut hast anzuklopfen, zu fragen, als wir gerade in Accum waren,
danke für die inspirierende, ermutigende Begegnung, Glück und Gottes Segen.

Erst auf dem Nachhauseweg wurde mir bewusst, mit welcher Selbstverständlichkeit diese jungen Menschen mich in ihre Mitte genommen, mich an ihren gedeckten Tisch gebeten hatten.
Als Hungrige hatte ich angeklopft, als Beschenkte fuhr ich nach Hause.